Seiten

Freitag, 18. Mai 2007

086 | Alte Karten und Briefe

Meine größten Schätze bewahre ich im Oberstübchen auf: in zwei Kartons auf dem Dachboden. In dem einen befinden sich Fotos und Schriftstücke meiner Familiengeschichte, in dem anderen Briefe und Ansichtskarten, die ich früher erhielt.
Die erste Post erreichte mich bei der Kur. Da war ich vier Jahre alt und fühlte mich sehr einsam, denn Mutter-Kind-Kuren waren noch nicht erfunden. Die Prinzenrolle von meiner West-Oma, welche Knabbertrost hätte spenden können, wurde mir aus Gründen einer ausgewogenen Ernährung abgenommen und beim separaten Kaffeekränzchen meiner Erzieherinnen konsequent vernichtet. Ich sah es, als ich mich wegen irgendeiner Frage vertrauensvoll an sie wenden wollte.
Abends sang Reinhard Lakomy melancholisch zu Sandmanns Abendgruß:
"Geschichten erzählen von Freude und Fleiß, Geschichten erzählen, die noch keiner weiß. Frag doch die Leute, frag doch die Leute ... frag die Leut." Da wurde ich noch trauriger.
Wie unbeschwert sahen dagegen meine Eltern auf dem alten Hochzeitsfoto aus, das ich mir an einen freien Nagel übers Bett gehängt hatte. Von ihnen erhielt ich die meiste Post, vor allem Ansichtskarten, weil ich noch nicht lesen konnte. Ich sah sie mir immer vor dem Einschlafen an. Nach vier Wochen konnte ich die Karten bereits thematisch sortieren: Tiere, Sandmannfiguren, Karten mit Berlinmotiven, Karten aus dem Indianermuseum Radebeul, Szenen aus Rotkäppchen. Dieses Märchen spielte ich als erstes nach, schließlich kannte ich es auswendig. Später dachte ich mir Dialoge für die Kartentieren aus. Die Rückseite eines Stuhles war meine Puppentheaterbühne.
Briefe, welche meine Erzieherin nach Hause schickte, sind ebenfalls erhalten. Ich zeichnete dazu mit dem Buntstift Schiffe, Häuser und Gärten, aber auch einen Jungen mit Schirmmütze, der an vielen Luftballons hängt und am Fernsehturm vorbeifliegt, nach Hause.
Als mich meine Eltern vom Bahnhof abholten, sollte ich sagen, welche Veränderung ich bei meinem Vater feststellen konnte. Eine neue Jacke? Die Sonnenbrille? Ich wusste es nicht. Es war der Bart. Mein Vater hatte sich einen Vollbart wachsen lassen, und mir war es nicht aufgefallen.

Die Post, die ich im Ferienlager erhielt, erscheint mir heute weniger bedeutsam, obwohl ich nach dem Mittagessen immer ganz aufgeregt war, ob was für mich dabei wäre. Wichtiger waren Briefe, die wir Kinder uns nach jedem melodramatischen Abschied zuschickten, als der Heimatalltag uns wieder hatte. Wir nahmen uns fürs nächste Jahr vor, gemeinsam im selben Durchgang dabei zu sein, was wegen der Urlaubsplanung unserer Eltern jedoch nicht immer klappte. Nach zwei, drei Briefwechseln schlief die Schreiblust stets wieder ein. “Aus den Augen, aus dem Sinn” hatte meine Mutter gesagt. Und ich wollte es nie wahrhaben.
Manchmal entspann sich jedoch eine Brieffreundschaft, die Jahre hielt, bis zum Ende der Kindheit oder spätestens bis zum Prüfungsstress in der 10. Klasse.

Die wertvollste Post ist aber die der Jugendlieben: Briefe mit Herzchen, Gedichten, gepressten Blättern. Manchmal auch nur ein herausgerissener Zettel mit einer Adresse, einem übermütigen oder schmollenden Satz.
Gestern las ich mir einiges davon durch. Eine Anke P. lernte ich 1988 kennen. Das heißt, wir sahen uns höchstens dreimal. Sie war in der 9. Klasse, ich in der 11. Die Herbstferien verbrachte sie bei einer Tante auf dem Dorf. Anke schrieb mir Tagebuch-Briefe. Von der Öde dort, aber auch von einer merkwürdigen Begegnung mit einem Hirsch. Der stand morgens so versteinert wie sie auf dem Waldweg und starrte sie an. Dann lief er weg. So ähnlich war das wohl auch mit uns. Unsere Wege kreuzten sich zufällig, und wir hatten noch keine Scheu voreinander, legten unsere Herzen bloß, liebten oder benutzten uns, bevor ich im Dickicht verschwand. Bis dahin war aber alles ungeplant und möglich. Obwohl sie Friseurin werden wollte.
Meine Briefe wurden von Ankes Mutter nachgeschickt. Ich schrieb – sie zitierte mich – irgendetwas mit “Friedhöfen” und “zu sich finden”. Wie das eben so ist mit 16 oder 17.

Es mag pathetisch sein, aber mit meiner Jugend ging auch die Ära des Briefeschreibens und In-sich-Hineinhorchens zu Ende. Denn Handyanrufe und E-Mails sind – philosophisch gesehen – kommunikatives Fastfood. Es sei denn, man druckt sich E-Mails aus. Aber selbst dann fehlt die Handschrift.
Trotz dieser Erkenntnis bin ich allerdings auch nicht mehr zum computerlosen Briefeschreiben zu bewegen, was schade ist. Ich hüte, wie gesagt, nur noch meinen angegilbten Hort im Oberstübchen.

Es ist schon verrückt, was in alten Briefen steht, wirkt oft so präsent, dass man gleich antworten möchte. Dabei wurde das meiste vor 20 Jahren aufgegeben. Und wie in Brechts Gedicht “Erinnerung an Marie A.” - “Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer” - kann ich mich an manchen Namen, manchen Kuss von manchem Mädchen nicht erinnern. Und das ist sogar mehr als traurig. Denn was wird bleiben von unseren Erinnerungen, unseren Gefühlen, Worten und Taten? Ein Pappkarton mit Versatzstücken. Manches davon ist allerdings Impuls für weitreichende Erinnerungen. Z.B. ein Telegramm, in dem steht, wann ich in Bansin am Zeltplatz-Büro erwartet werde. Ich war 18 und wollte trampen. Mein Rucksack hatte Übergewicht, aber in mir traten alle Bands aus Woodstock noch einmal auf. Und obwohl ich von so gut wie keinem Autofahrer mitgenommen wurde, kam ich irgendwann auf Usedom an. Da mich wegen eines Missverständnisses niemand erwartete, schlief ich allein direkt am Meer. Abends wurden Strandfeuer entzündet. Bei Sonnenaufgang badete ich in der Ostsee. Am Vormittag trampte ich zurück.

Was sie wohl heute machen? Die, die mich einmal erwarteten und die, welche mich sitzen ließen. Die Verführung, nach ihnen zu googlen, ist groß. Brecht hat das wohl geahnt, als er sein lyrisches Ich an den Kuss unter einer weiß blühenden Wolke und einem Pflaumenbaum erinnern lässt:
“Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen” ---
“Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind.
Doch jene Wolke blühte nur Minuten.
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.”