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Montag, 6. Oktober 2003

062 | Halb leer, halb voll

Das Wetter in den Wechseltagen, unbeständig und launisch: Am 3. Oktober noch einmal aufsteigende Hitze und ein letzter Nackter auf der Nudistenwiese im Volkspark Friedrichshain. Aber jetzt taugen selbst Strickjacken mit Rolli nicht mehr viel. Jogger müssen wegen konkurrierenden Tiefausläufern immer häufiger innere Schweinehunde schlachten und Couch-Kartoffeln sehen sich selbstvergessen Kochsendungen im Fernsehen an. Man kramt immergrüne Inselträume raus („Nicht noch einen Winter in Deutschland!“), man erinnert sich bei „Herr Lehmann“ im Kino oder bei Ossi-Shows zu Hause an vergangene kuschlige Inseltage. Man hat Zeit, mit sich, dem Partner oder dem Ganzen unzufrieden zu sein, fühlt sich aber nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Man ist morgens schon müde und wie in Pubertätstagen der Meinung, dass alles irgendwie nichts tauge. Traditionell die Politiker, die Bürokraten, Steuergesetze und jetzt auch die Verschuldungen, die Prognosen, das Nullwachstum. Das Wort „Reformen“ kann keiner mehr hören.

In der Baubranche wird wegen der wegfallenden Eigenheimzulagen ungewollt Rilke zitiert: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“. Zumindest in Deutschland. Denn schnell wird von einigen Promis sogar noch der Wohnort in die Schweiz verlegt, weil man nie wissen kann. Oder weil man weiß.
Neulich träumte ich sogar von der Apokalypse: Der Mond fiel auf die Erde. Und die Menschheit hatte nur noch 42 Sekunden zu leben. Nicht schön das.
Ob schon mal jemand mit schwachem Herz einem Alptraum zum Opfer gefallen ist? Nächtlicher Infarkt nach eingebildeten Höllenqualen. Nur bei den Hinterbliebenen heißt es dann neidvoll: „Ein angenehmer Tod! Er ist sanft in seinem Bett entschlafen.“ Oder: „Das hat er nun davon!“ – Je nachdem, was der Verstorbene den Erben hinterlassen hat.

Aber der Oktober hat auch bei grauem Himmel seine Lichtblicke, seine inneren Werte: Da sind die kleinen Dinge, die erfreuen, wie zwei wiedergefundene Leergut-Pfandbons aus dem Jahre 2001. Die DM-Summen waren kaum noch lesbar, wurden mir aber bei Kaiser´s nach einigem Stutzen, Zögern und Umrechnen kulanterweise ausgezahlt. Über 5 Euro! Was sich damit alles anfangen lässt! Zum Beispiel zwei „Refill-Aktionen“ im Fitness-Studio (trinken bis zum Umfallen) oder 1 Flasche Prosecco (reicht noch nicht zum Umfallen). Oder ein Lottoschein (Was kosten die noch mal und was bringen die?) für den Inseltraum oder am Ende doch nur ein Drittel für das Knöllchen an der Windschutzscheibe vor Kaiser´s.

Dann die Oktoberklassiker wie: Sonntagvormittags mit einem Buch, das zu heißem Tee und klassischer Musik passt (Th. Manns „Lotte in Weimar“), auf der Couch. Pure Befriedigung, wenn man vorher duschen und joggen war. In umgekehrter Reihenfolge.
Literarische und musikalische Klassik wird von mir übrigens immer gern im Oktober wiederentdeckt. Sonst hat die Klassik nur bedingte Chancen. Weil der Rest des Jahres fühlbar nicht zeitlos ist. Weil immer alles ganz voll beginnt und ab Oktober halb oder ganz leer ist. Optimistischere Sichtweisen verbieten sich irgendwie von selbst.

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