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Samstag, 4. Januar 2003

047 | De la Guarda

Nachdem ich an genügend „De-la-Guarda“-Plakaten (mit dem fliegenden gelben Männchen) vorübergegangen war und einiges in Zeitschriften über die Luftakrobaten aus Buenos Aires gelesen hatte, sah ich sie mir gestern Abend im PankowPark an.
Atemberaubend schon der Eintrittspreis - zwischen 39,- und 49,- €. Vom selben Kaliber die Restaurant- und Barpreise. Das Fläschchen „Heinecken“ zu 3,50 € . Eigentlich 5 Chips, denn – warum auch immer – eingetauschte Chips waren in der ehemaligen Bergmann-Borsig-Generatorenhalle das einzig akzeptierte Zahlungsmittel (der Chip zu 70 Cent).
Unabhängig vom Preis (oder gerade nicht) hatte alles Stil. Das asiatisch inspirierte Essen im umgebauten Schaltstand der Industriehalle, daneben die Lounge, wo sich auf einer Art Autorücksitzen entspannt Cocktails schlürfen ließen. Vor oder nach der Show.
Das Publikum war gemischt, ein paar Ältere, ein paar Teenager, vor allem jedoch Mittdreißiger.
Nach einem Fotoapparat- und Handyverbot wurde noch vor künstlichem Nebel und Regen gewarnt, dann ging es in den mit rotem Samt verhangenen Showraum. Die Zwischendecke war aus Papier und das Licht plötzlich aus. Ein Gefühl wie im Planetarium. Waberndes Wummern und sphärische Klänge. Geheimnisvolle Schattenspiele. Und jede Menge ausgeworfene Assoziationsköder: Balinesische Schattenspiele – nein, doch ganz anders. Bunt phosphorisierte Tropfen da oben, wie ein nächtlicher Sternenhimmel, ja, aber - doch ganz anders.
Spontaner Beifall, immer als Standing Ovation, der fehlenden Stühle wegen. Luftballons, erst bunt, dann knallig, prasselnde Murmeln, später Konfetti. Kinderparty mit Animateuren im Darkroom für alle.
Schon bekam die magische Butterbrotpapierdecke Löcher und Risse, allerdings ohne die graue Wirklichkeit hindurchzulassen. Im Gegenteil! Die ersten vier verrückten Freeclimber ließen sich zu den eingepferchten Zuschauern herab, entführten auch mal eine junge Frau nach oben. So stand es bereits in der Zeitung. Und immer Lärm. Halbgötter auf Extacy, mit Trillerpfeifen und Trommeln, mit Headset und vom Wasser nassen Klamotten. Sexuelle Energie und drogenfreier Farbrausch, professionell verwirrend. Die Halbgötter drehten sich in der Luft an Seilen, schwangen wie Tarzan von hüben nach drüben und rannten wie Pipi Langstrumpf die Wände lang, trampelten aggressiv und aufreizend, rissen aus der Luft nass, aber feurig die geerdeten Zuschauer mit, die es nach Ablenkung, Spaß oder Erlösung verlangte. Von den beiden, die sich gegen Wasserspritzer einen mitgebrachten Müllsack über die Köpfe hielten, einmal abgesehen. Jeder schnappte nach den Assoziationsködern, danach, was sich letztlich nicht zum Ganzen fügte. Kein Konzept, so stand es im „Spiegel“, glaube ich. Aber das machte nichts. Einerseits. Wozu aber die inszenierten Bilderrätsel, die nicht nur nach Spaß, sondern auch nach Interpretation aussahen? Wie ein Zirkus-Gemälde von Hieronymus Bosch.
Vor vielen Jahren war ich mit einer guten Bekannten im Theater, hatte das Stück aber nicht verstanden. Meine gute Bekannte dagegen schon. Auf die Frage, ob sie mir das Ganze erklären könne, lächelte sie und meinte, das könne man nicht. --- Daran musste ich gestern denken. Ich glaube, man kann das, was man verstanden hat, immer erklären. Nur macht es nicht immer Sinn, das auch zu tun. Nicht sofort. Für sofort reicht im besten Fall ein beseeltes Lächeln. Im Nachhinein war die Show für mich eine Patchwork-Parabel auf das Leben. Die Konzeptlosigkeit als Konzept. Weil – im doppelten Sinne und im sinnlosen Chaos – alles geht. Chaos, in das jeder für sich Ordnung reinbringen kann – oder es sein lässt. De la Guarda – Anarchie, um mit dem Verstand zu fühlen und mit dem Herzen zu denken. De la Guarda - Faszinationen & Urängste, Stille in Momenten, die sich nur ansatzweise fassen lassen & viel Lärm um alles oder nichts. Jeder sah, was Erfahrung und Bildung hergaben: ein Verlassener im Regen, geknechtete Seelen im Fegefeuer, ein Läuferpaar im Geiste Sissyphos’, die Wiederholung als Fluch und Segen, der Lauf, die Bewegung überhaupt, als Selbstzweck. Formelhaft: Leben ist Energie ist Bewegung ist Tanz ist Extase.
Der Zuschauer gespalten: der eine steht und deutet, der andere deutet bewegt an:
„Halt die Klappe, Klugscheißer!“
Und zwischen den gespaltenen Zuschauern konfrontierten die Akteure ihre betrachtenden Statisten mit sich als Projektionsflächen, forderten zum Tanz auf, machten glauben, dass jeder fliegen könne, wenn er es nur wolle.
Ihre aufwendig inszenierte, wenn auch simple Philosophie: Leben ist, was du daraus machst.
Und nach 70 Minuten war der Spaß zu Ende. Applaus und Hochachtung für die magischen Motivationstrainer aus Argentinien. Dann zurück nach Deutschland.

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