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Samstag, 21. Dezember 2002

045 | Kino Babylon

Nein, ich werde nichts über die (Vor-)Weihnachtszeit schreiben. Hatte ich mir fest vorgenommen. Keinen weiteren Misston in die Alle-Jahre-wieder-Kakophonie unterschiedlicher Standpunkte bringen. Wenn die angezündeten Lichter zu hell leuchten: Augen zu und durch. Motiviert vom Wissen, dass der heutige Tag – obgleich der kürzeste – für Weihnachtsmelancholiker und Dezemberdepressive der bedeutsamste ist: Wintersonnenwende!
Das war mir gestern Anlass, um die längste Nacht im Kino zu verkürzen. Passenderweise mit Kurzfilmen - im „Babylon“ am Luxemburgplatz.
Cut!
Ich war lange nicht mehr dort. Alles neu gestrichen, neue Klappsitze, aber noch das kleine Kassenhäuschen, der barocke Balustradenschwung von den oberen Logen, die mich immer an eine Kellerassel oder einen ausgestorbenen Trilobiten erinnernde Lüftungsanlage der Decke und – der ebenfalls vom Aussterben bedrohte Kino-Gong: Bing – Bang – Bong ...
Bing:
Mit dreizehn hatte ich an der kleinen Kasse einen Pyrrhussieg errungen – den Eintritt zu einem Film ab vierzehn. Es sollte um Wahnsinn und Mord gehen! Draußen in den Glaskästen hingen Szenenfotos in Schwarzweiß; fast immer waren die Szenenfotos in Schwarzweiß. Der Titel lautete: „Das Kabinett des Doktor Caligari“ Das Klang schon so dunkel und gruselig. Aber der Film enttäuschte mich. Er war auch in Schwarzweiß, ein Stummfilm von Anno Zopf. Dass er ein expressionistisches Meisterwerk von Fritz Lang ist, also mehr als Kult, interessierte mich nicht.
Bang:
Am letzten Jahrestag der DDR war ich abends mit einer Freundin im Babylon verabredet. „Die Legende von Paul und Paula“ wurde gezeigt. Als ich vom S-Bahnhof Alexanderplatz kommend die Liebknecht-Straße überquerte, quoll mir eine verbotene Menschenmasse von links entgegen. Von rechts hielten Funkstreifenwagen. Und ich stand für einen Moment wie gelähmt auf der Straße, zwischen dem unbekannten Neuen und denen, die das nicht aufhalten konnten. Ich wusste, wo mein Platz sein sollte, jedenfalls nicht im Babylon. Aber meine Freundin überredete mich, bei ihr im Kino zu bleiben. Fassungslos saß ich vor der Scheinwelt DEFA-realistischer Filmkunst, während draußen geschrien wurde: „Kommt heraus und reiht euch ein!“.
Am nächsten Abend war ich Freiwilliger der Bürgerwehr, doch an diesem nur ein gefühlter Deserteur. Paul liebte Paula und die Revolution kam aus dem Off. Wintersonnenwende schon im Herbst.
Später, in der Nachwendezeit, sah ich viel Progressives im Babylon. Nur einmal, als ich mit einem Freund dort zur „Rocky-Horror-Picture-Show“ wollte („Da kannste mit Reis werfen!“), drehte ich im girlandengeschmückten Foyer wieder um: Eine Gay-Party! Zu viel Horror-Picture-Show für zwei neunzehnjährige Heteros.
Bong:
Gestern war das Publikum gemischt und angenehm überschaubar. Männer Ende zwanzig mit langen Mänteln, Koteletten, Wochenbärten und herausgewachsenem Kurzhaarschnitt. Die Frauen – etwa im selben Alter – waren äußerlich vielfältiger. Und doch kann man sie als typisch für den Friedrichshain und Prenzlauer Berg bezeichnen. Innerlich sind sie wohl alle Einzelkämpfer, wenn auch gemeinsam zwischen entspannter Abgrenzung und etablierter Subkultur beheimatet. Extrovertierte Introvertierte, bei denen jede Schublade klemmt und zu klein bleibt. Obschon vergleichbar mit erdachten entradikalisierte Nachkommen von Uschi Obermeier und Reiner Langhans.
Merkwürdig: Dieser Menschenschlag kreativer Intellektueller zieht mich jedes Mal genauso an, wie er mich voller Skepsis Abstand gewinnen lässt. Da die klugen, neugierigen Augen und da die spöttisch blasierten Blicke. Und hinter mir die liberale kleinbürgerliche Erziehung, die prägt, egal wie oft man sich häutet.
Ab dreißig, habe ich mal gelesen, sind die grundlegenden Wert- und Weltanschauungen festgemacht. Ob das nun gut oder schlecht ist, liegt an der Art der Anschauungen. Und eben an den altersbedingten Blickwinkeln.
Cut!
Die Kurzfilme waren ganz nett, mit Weihnachten als thematischer Klammer. Je nach Anschauung und Blickwinkel kamen die Storys als versalzene Feuerzangenbowle oder Molotowcocktail daher, als verbrannte Plätzchen oder entlaubte Weihnachtsbäume. Und als hübsch verpackte Geschenke Pandoras - mit zum Spielen freigegebener Hoffnung. Wintersonnenwende!

Sonntag, 1. Dezember 2002

044 | Schmuddelwetter

Wenn es in Berlin nicht regnete, würden die Straßen im Hundekot versinken. Und die Arbeiter auf ihren Baugerüsten schrien sich den ganzen Sonnabend Großstadt-Dschungel-Laute zu. So ziehen sich die Hiesigen aber zurück, quälen die Fernseher, telefonieren mit anderen Zurückgezogenen oder gehen einfach wieder ins Bett. Vorausgesetzt, sie müssen sich nur um sich selbst kümmern. Dort bei einer Tasse Tee oder Kaffee zu lesen, ist für mich der spartanischste Luxus, den ich mir in Winterschlafzeiten denken kann. Überdies ist es manchmal besser, sich aus dem halb wachen Leben da draußen herauszuhalten. So genieße ich zur Zeit drei Bücher: Für die Morgenstunden „Picknick mit Bären“ von Bill Bryson, für den entspannten Nachmittag eine Schiller-Biographie und Buchheims „Die Festung“ für nachts. Zwischendurch nur mal schnell wegen des versäumten Wochenendeinkaufs in den nächsten Supermarkt wie welche, die besser im Regen stehen geblieben wären: Ein langhaariger Bartträger, der inmitten des Konsums mit seinem angegammelten Geruch beinahe prophetisch daherschlurft und penetrant an die Vergänglichkeit allen Seins gemahnt. Er ist die Personifizierung des Spätherbstes, wenn man von seinen nackten Sandalenfüßen einmal absieht.
Ähnlich sonderbar, und auch fast schon ins Surreale gesteigert, war der Anblick eines anderen Mannes, der vor ein paar Abenden auf dem Beifahrersitz eines geparkten Autos saß: Ende sechzig, kurzatmig, und zur braunen Hornbrille passend dick. Unpassend nur – eben surreal – die Musik, welche er bei heruntergeleiertem Fenster hörte: „Sag mir, wo die Blumen sind“. In einer Millva-Interpretation, wie ich im Vorübergehen hörte. Und da glaubt man, die Menschen zu kennen ...
Was mich gestern Abend trotz Dunkelheit und Schmuddelwetters wieder hoch brachte, war eine Einladung von Freunden. Sie wollten etwas ganz Außergewöhnliches kochen.
Ich war schon spät dran, stieg frisch geduscht und mit zwei Flaschen badischen Riesling bewaffnet ins Auto, da stieg im Gegenzug die Batterie beim Anlassen aus. Sehr schön! ADAC angerufen und gewartet. Und gewartet. Draußen nieselte es.
Als die Scheiben beschlugen, stellte ich mich unweit des Wagens vor einen Eckladen unter eine handbreit Markise. Und gewartet. Weil der Laden schon geschlossen war, musste ich auf die einzelnen Passanten, die beim Im-Dunkeln-um-die-Ecke-biegen vor mir erschraken, genauso suspekt gewirkt haben, wie die oben beschriebenen Männer vorher auf mich. Und unbeeindruckt davon, dass die Schuhe mit Wetterschutzcreme behandelt und und mit Imprägnierspray besprüht waren, krochen Kälte und Feuchtigkeit durch Leder und Strümpfe.
Als der ADAC-Mann nach einer dreiviertel Stunde kam, hielt er mir noch ein Referat über Autobatterien, statt endlich die beiden Starterkabel anzuklemmen. Offenbar schrieb er nach der Arbeit an einer Doktorarbeit über das Versagen von Batterien im Allgemeinen und das von PKW-Fahrern im Besonderen.
Um 22.00 Uhr war ich bei meinen Leuten. Da ich vorher durchgeklingelt hatte, war die frische Pasta noch heiß und der Abend noch zu retten. Wir unterhielten uns nach dem Essen über das merkwürdige Verhalten von Großstädtern und aus den Augen verlorene Bekannte, die uns im Grunde nicht mehr wirklich interessierten. Über das Schmuddelwetter aber verloren wir kein Wort.