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Dienstag, 8. Oktober 2002

035 | Über Sessenheim nach Straßburg

Bevor ich mich in die Stadt begab, die mit dem Etikett "Sturm und Drang" behaftet ist und wo sich Goethe, Herder und Lenz kennen lernten, fuhr ich 40 km an ihr vorbei, nach Sessenheim. Aus romantischen Gründen. Hierhin wurde nämlich 1770 der junge Frankfurter Schnösel Goethe von einem Freund mitgenommen, hier lernte er die Pfarrerfamilie Brion kennen und die Tochter Friederike lieben. Goethe galt 1 Jahr als ihr Verlobter, war mit seinen 21 Jahren deutschlandweit ein Niemand und wurde von den Sessenheimern doch in guter Erinnerung behalten, als er sich irgendwann wieder nach Frankfurt fortstahl. Friederike, ein schönes Kind mit dicken blonden Zöpfen, inspirierte ihn zum "Mailied", zum "Heidenröslein" und zu "Willkommen und Abschied", meinem Lieblingsgedicht aus dieser Zeit.
Als der heute kaum noch bekannte Lenz Friederike über Goethes Weggang trösten wollte, hatte auch er nur das Nachsehen. Denn wo ein Goethe war, konnte kein anderer landen. Friederike blieb, bis sie mit 61 Jahren starb, ledig.
Von dem Pfarrhof, den Goethe wie in Eile zeichnete (da das Wetter und Friederike zum Spaziergang lockten), gibt es noch die alte Scheune. Weil der Poet sich einmal bei der Maisernte nützlich machte. "Goethescheune" heißt sie demnach heute. Ein deutsch sprechender Mann, welcher das dazugehörige Haus verließ (vielleicht der heutige Pfarrer), sah mich schulterzuckend an, als ich mich nach der Scheune erkundigte. Es sei nur eine Scheune, sagte er, da gäbe es nichts weiter zu sehen. Ich wusste, dass er Recht hat. Und dennoch.
In dem verträumten Ort, wo Haus und Hof märchenhaft lieblich anmuten und die Einwohner selbst Fremde mit "Bonjour" begrüßen (es könnte ja wieder ein Dichter unter ihnen sein), gibt es auch eine Goethestraße und eine Friederikestraße, ein Goethemuseum (das leider zu hatte) und ein "Goethe-Memorial". Das ist ein zweiräumiges Fachwerkhäuschen vis-à-vis der Goethescheune. Der eine Raum belehrt über die frühe Goethe-Zeit mit gerahmten Texten und Bildern, der andere dient zur Andacht. Die riesige Büste des pensionierten Geheimrats hinter einer Absperrung befremdet. Steif und unnahbar blickt er an einem vorbei, wirkt so, wie man ihn seit der Schulzeit zu kennen glaubt.
Einige Jahre nach seinem Sessenheimer Abschied kam Goethe übrigens noch einmal vorbei. Wohl des schlechten Gewissens wegen. Aber niemand, selbst Friederike nicht, war ihm böse oder fühlte sich hintergangen. So war das in Sessenheim.
Dann nach Straßburg. Zum Münster. Der erste Eindruck: überwältigend! Ich ging einmal herum, dann hinein. Die Illumination durch die Rose, der etwas byzantinisch anmutende Chorraum, die Silbermann-Orgel, welche wie ein Präludium zu schweben scheint, die riesige astronomische Uhr ... Der erste Eindruck bleibt.
Als ich ich die 330 Stufen zur Aussichtsplattform besteigen wollte, kam ich allerdings 15 Minuten zu spät. Schade. Goethe ging bei seiner Straßburger Ankunft sofort hoch. Wollte nach einer Krankheit Höhenangst und Lärmempfindlichkeit überwinden, setzte sich fast unter die Glocke und war - für den Augenblick sicher taub - von der Übersensibilität am Ende jedoch geheilt. Vielleicht auch deshalb der unsensible Abschied von Friederike, man weiß es nicht.
Straßburg selbst wirkt im Vergleich zu Colmar weltstädtischer, jünger, betriebsamer. Die Fachwerkhäuser rund um das Münster sind zwar bezaubernd altehrwürdig wie das Maison Kammerzell, bezaubernder aber sind die jungen Verkäuferinnen, die in ihnen arbeiten. In Bezug auf Charme und Lebensart ist die Stadt reinweg französisch. Zumindest wirkte sie auf mich flüchtigen Besucher so.

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