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Samstag, 31. August 2002

027 | ***

Der letzte Augusttag ist für mich immer wie der letzte Sommertag. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass in meinen Kindertagen am 1. September die Schule begann. Mit Fahnenappell zum Weltfriedenstag und damit man gleich wieder wusste, wo Hammer und Sichel hängen.
Aber vielleicht spukt der Herbstanfang schon in meinen Gedanken rum, weil ich heute Morgen beim Wochenendeinkauf Lebkuchen und Spekulatius in den Supermarktregalen entdeckte. Habe ich mir auch vorgenommen, dergleichen zu ignorieren wie Daily Soaps & Teenie-Talk am Nachmittag, so beschäftigt es mich doch jedes Jahr aufs Neue. Ebenso die Frage, wie lange die Blätter den Bäumen noch grün sind. Dabei besteht gar kein Grund zur Sorge, denn wenigstens der Hochsommer hat derzeit Konjunktur. Und dafür duscht man auch gerne zweimal am Tag. Oder wartet am See auf Freunde, im Biergarten auf die Bedienung, auf unbürokratische Hochwasserhilfe, auf den Kreuzzug Amerikas, die erneute Entlassung oder den nächstbesten Job. Dafür soll sich der Herbst ja besser ausnehmen. Wenn man an Politiker, Prognosen oder die Sterne glaubt. Und wer nachts eine Schnuppe entdeckt, darf sich was wünschen ...
Meine bescheidenen Sommerwünsche haben sich zumindest erfüllt. Sehe ich auf Wochen zurück, ist da keine Trauer, irgend etwas verpasst zu haben. Ich war in Berlin! Hatte Spaß am Neuentdecken, Abenteuer auf den Radwegen und das Grün direkt vor der Haustür. Wenn ich auch noch immer keine Bouillabaisse in Marseille gegessen habe oder ewig keine Paella mehr in Barcelona, so wusste Berlin noch stets meinen Hunger zu stillen. Selbst in diesen mageren Zeiten.

Samstag, 24. August 2002

026 | "Kühe würden Künast wählen"

Am Freitagnachmittag fällt die Woche von einem ab. Alle Gesichter wie ausgewechselt. Das gestrige Licht als Erfüllung jeglicher Sehnsucht, und das als Kurstadt empfundene Berlin liegt sichtbar am globalen Meer. Also zuerst einen Strandspaziergang durch den Mauerpark vom Prenzlauer Berg. Vier Trommler geben schon von weitem den Rhythmus fürs Wochenende vor. Basketballer bewegen sich in Videoclip-Ästhetik. Dann Jongleure, Skater-Akrobaten und Beck´s trinkende Zuschauer. Ich fühle mich gut. Wärme, Sonnenbrille und Schluffi-Klamotten, was braucht´s mehr?! Dass der Sommer seinen Höhepunkt überschritten hat, ist bloß ein Gerücht.
Später im Prater-Biergarten. Noch ist es halbwegs leer. Gemessen daran laufen viele Kleinkinder rum, zwei sogar nackt. Auf das Hefeweizen vom Fass freute ich mich seit Tagen. Dazu gegrillter Leberkäse im Brötchen und eine Laugenbrezel. Ich wundere mich, warum es in der Hauptstadt keine Buletten gibt.
Dann rüber zur Kulturbrauerei. Renate Künast wird zu 19.00 auf Plakaten angekündigt. Aber deswegen bin ich nicht hier. Es ist 21.00. Menschen mit Kuh-Flecken-T-Shirts kommen mir entgegen. Vor dem "Palaise" ist Gedränge. Drinnen spielt eine Band. Blues-Brother-Songs. "Grün wirkt" wird beweglich an die Wand projeziert, die Schrift natürlich in Grün. Und immer wieder der Slogan: "Kühe würden Künast wählen". Welche Rindviehcher waren für diese Kampagne verantwortlich, frage ich mich und halte einfach mal nach der Künast Ausschau. Die steht aber schon direkt neben mir, mit einem Beck´s in der Hand und in ein Gespräch vertieft. Ob die Beck´s trinkt, weil die Flaschen grün sind? Oder weil dieses Berliner In-Bier Basisnähe demonstriert? Hm, wer weiß, vielleicht schmeckt es ihr einfach.
Neben ihr ein junger Mann im Anzug, Bodyguard? Dafür zwinkert er zu oft mit den übermüdeten Augen. Keine Konzentration, kein Personenschutz. Was, wenn ich der Frau Künast das Bier wegnehmen würde? Was, wenn sich ihr so ein Verrückter mit Geflügelschere nähert wie am Vortag beim Schäuble im Würtembergischen?
Polizei gibt es erst am Ausgang. Einige Straßen weiter trägt jemand einen Kasten Beck´s zu einer Party, und ich bin immer noch nicht dahintergestiegen, was das Bier so trendig macht.
In einer Kneipe bestelle ich Wernesgrüner vom Fass. Kein Trotz. Trotzdem Kopfschmerzen heute Vormittag. Und keine Aspirin im Haus. Lässt sich aber aushalten, wenn ich an gestern denke.
Wie es Frau Künast wohl geht?

Dienstag, 13. August 2002

025 | Bei Potsdam

Manchmal befinden wir uns im Schatten großer Ereignisse oder Städte ohne dabei weniger glücklich zu sein. Im Gegenteil, oft finden wir unser leises Glück gerade fernab des Rummels. Will sagen: Während letzten Samstag in Sanssouci die Potsdamer Schlössernacht stattfand, saß ich nur einen Spaziergang weit entfernt bei Freunden im Garten. Wir grillten Zucchini, Auberginen & Steaks, tranken Schwarzbier und Rotwein und freuten uns, dass es doch nicht zu regnen begann. Bis in die Morgenstunden war da eine angenehm milde Sommernacht. Und warum sollte das Schlosspark-Feuerwerk, welches wir um null Uhr hörten, nicht auch unseren bescheidenen Tag krönen! Hier waren wir es, die Schatten warfen.
Am Sonntag sah ich mir ausgeglichen und frei von Kopfschmerzen Petzow an. Der Ort liegt am Schwielow, der größten seeartigen Havelbucht im Berliner Umland. Von einer versteckten Bank aus sah ich Segelboten und Libellen hinterher, hörte das Badegeschrei von Kindern, studierte die verjüngten Gesichter von Einheimischen und Sommerfrischlern, die das Ganze mit mir genossen, weil wir um die grauen Tage wussten.
Über Petzow hat Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" geschrieben. Dabei muss er ähnlich angetan gewesen sein. Einzig die Radikalität, mit der hier Kirchen gebaut wurden, verdross ihn. Denn von der alten gotischen Kirche unweit des Schwielow blieb nichts erhalten, keine Grabplatte, nichts. Stilistisch gesehen ein Vorteil, aber letztlich eine seelenlose Angelegenheit. Mit preußischer Gründlichkeit – für den Neubau war kein Geringerer als König Friedrich Wilhelm IV. verantwortlich – wurde Historisches einfach als Gerümpel beseitigt.
Das Äußerliche dagegen ist perfekt: Auf einem sanften Hügel des Petzower Schlossparks, den Lenné anlegte, befindet sich die im romanischen Stil erbaute schnörkellose kleine Kirche. Die Pläne dafür stammen noch von Schinkel, der jedoch ein Jahr später in der Bauphase 1841 starb. Davon hat Fontane nichts geschrieben.
Die zur DDR-Zeit vernachlässigte Kirche wurde in den 90ern wieder hergerichtet und bietet jungen 2.- und 3.-klassigen Künstlern eine Ausstellungsmöglichkeit. Davon hat Fontane nichts schreiben können.
Für seine Aussicht gerühmt ist der Kirchenturm, den man für 1,- _ und mit nur wenigen Schritten besteigen kann. Dass ich es nicht tat, ist unverzeihlich, aber auch im Schatten dieses ereignishaften Turmes war ich – wie eingangs gesagt -nicht weniger glücklich. Und heute, am 2. Regentag in Folge mit deutschlandweiten Hochwassermeldungen, denke ich an den Turm und seine sonnige Wochenendaussicht wie an einen bereits verjährten Urlaub zurück.

Montag, 5. August 2002

024 | Freizeitspaß

Von Freitag bis Sonntag verkam die Karl-Marx-Allee zum längsten Biergarten Berlins. Biersorten aus aller Herren Länder wurden dort beim "Bierfest" geschluckt und so oder so rausgebracht, wie es bereits die Vorväter taten. Das Ganze allerdings mit El-Arenal-Feeling aufgepeppt. Und weil sich alles auch irgendwie steigern lässt, bewarfen einige in der Nacht grüne Ordnungshüter mit leeren Flaschen. (Ein Prooooosit der Gemütlichkeit!)
Betulicher ging es bei bestem Wetter im größten und ältesten (Selbstbedienungs-)Biergarten Berlins zu, auf dem Hof des "Praters" (Kastanienallee). Dort wird neben Kristal- und Hefeweizen sogar hauseigenes "Prater"-Pils ausgeschenkt. Dazu gibt es Laugenbrezeln, Käsespieße, Oliven oder Rostbratwürste, in denen mir aber zu viel Kümmel war.
Nach den reichlichen Kalorien war Jogging angesagt, diesmal im Volkspark Friedrichshain. Vorbei an den halb- oder völlig nackten Sonnenanbetern, Grillmeistern, spielenden Kindern, dem Café "Schönbrunn", dem wiedererrichteten Denkmal des alten Fritz´, hoch zum Mont Klamott, wieder runter und dann immer im Kreis um eine Freiluftarena und immer gegen den Strom von Inline-Skatern, Radlern und weiteren Läufern. Wie im überfüllten Tiergarten unterbleibt hier das gegenseitige Grüßen (erhobener Zeigefinger) der laufenden Autisten. Stattdessen sieht man zum Beach-Volleyball-Feld im Zentrum der Anlage, auf die Uhr oder lässt vorerst wenigstens seine Gedanken ausspannen.
Später und frisch geduscht verfiel ich ebenfalls der großstädtischen Liegewiesenmentalität, wenn auch nicht nackt. Nur irgendwie schaffte ich es, meine Decke genau über die ungezählten Ausgänge ungezählter Ameisen am Ententeich auszubreiten. Mal schnippte ich kleine schwarze herunter, dann wieder kleine rote. Dann kam eine kleine schwarze, um eine kleine rote abzutransportieren, die ein Riese beim Umdrehen einfach plattgemacht hatte.
Irgendwann schien es mich überall nur noch zu jucken; und dagegen hat auch die beste Sommerlektüre keine Chance. Außerdem nervte mich Familie Flodder, die "Enten füttern" als Wochenendhöhepunkt entdeckt hatte und – schlimmer noch – das ganze lautstark kommentierte ("Oh, kuck mal!"). Als sie anschließend mit Knüppeln die japanische Friedensglocke bearbeitete, wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte und ging, wo der Spaß auf der Strecke blieb, meiner Wege.