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Freitag, 17. Oktober 1997

Sonettenkranz für meinen Vater

(die zu früh sterben,
sprechen wir heilig,
weise nennen wir die alten.
und wir? – wir brennen
und erkalten.)



1
sag, vater, warum hast du mich verlassen?
berauscht dich jetzt das nichts, der eigne tod?
war´s gut so, sich das messer zu verpassen,
die seele rauszupressen in der not?

war er befreiend, dieser müde schrei?
war´s nur ein röcheln vor dem dunklen traum?
dein leben zog als abschiedsfilm vorbei.
trat ich drin auf? – ich glaub es kaum.

du lagst so traurig, als sie später kamen
und dich entsorgten mit dem mobiliar.
sie schwiegen, denn sie fragen nie nach namen.

sag, vater, was hat stumm in dir genagt
und dich besiegt in deinem letzten jahr,
noch eh wir uns das nötigste gesagt?


2
noch eh wir uns das nötigste gesagt,
schwimmt deine urnenboje schwarz vor augen.
du wirst von einem redner laut beklagt,
nur seine worte wollen mir nichts taugen.

man hält mich raus aus deiner leichenpredigt;
so bin ich selbst ein toter unter blinden.
so wird sich des vergangenen entledigt,
so kann man wahrheiten ganz neu erfinden.

und „yesterday“ höhnt ein harmonium ...
bist du noch da und kannst das alles hören?
drehst du zerstreut dich in der urne um?

bist du mir nah, so kann ich es nicht lassen,
dich jetzt in deiner ruhe aufzustören:
warum bekam ich selten dich zu fassen?


3
warum bekam ich selten dich zu fassen,
als ich dein sprödes herz vertraut begriff?
was ich berührte, sollte schnell verblassen,
am horizont erschien ein geisterschiff ...

wir angelten so oft am see nach aal,
wir weideten uns an der grünen aue;
jetzt wanderst du allein im finstern tal,
versunken stiere ich ins himmelblaue.

schon taucht die urne ab wie eine pose.
drei hände zweifel werf´ ich hinterher
und eine kaum erblühte rote rose.

im abschiedsbrief hieß es: „ich hab versagt.“
der schlussstrich lautete: „ich kann nicht mehr!“ –
hab ich dich einmal nur nach dir befragt?


4
hab ich dich einmal nur nach dir befragt?
nach deiner kindheit, ersten seelenrissen?
am wasser schweigt man und zur raubfischjagd
wird kaum auf frageköder angebissen.

an seen fixiert man bloß die oberflächen
und kümmert sich um seinen angelkram.
man ist bereit, den raubfisch totzustechen
und ahnt nicht, wo er steht, woher er kam.

stromab, stromauf zieht es den einzelgänger.
doch strandet er in einem trüben see,
schnappt er nach haken und ertrinkt nicht länger.

dass es mir gut geht, war wohl dein bestreben –
sag, warum tatest du mir dann oft weh? –
vererbt hast du mir kaum mehr als mein leben.


5
vererbt hast du mir kaum mehr als mein leben.
du hast es halb geprägt, halb abgestempelt.
du wolltest mir dein lebensmuster weben,
mein eignes hast du häufig aufgekrempelt.

in deinem schatten hab ich oft gefroren
und deine jacken waren mir zu groß.
ich wurde dir als einziger geboren;
du warst so stolz, dann sagtest du dich los.

von mutter schieden dich die neuen frauen,
war es bei mir das alte aufbegehren?
wir konnten unsrer nähe nicht mehr trauen.

wir ließen uns vom eigensinn verpflichten
und staunten, wie sich sture jahre mehren.
ein photo blieb und nachts die traumgeschichten.


6
ein photo blieb und nachts die traumgeschichten,
mal wärmen sie, mal ist der ofen aus:
mit fünf seh´ ich dich heizarbeit verrichten –
du schaufelst graue feuerreste raus.

am vollen ascheeimer soll ich riechen,
sagst du, denn asche rieche süß und fein ...
ich beuge mich und fühl dich zu mir kriechen.
noch tiefer, sagst du und bläst dann hinein.

ich schreie, weil es plötzlich stechend staubt.
die luft brennt und es fällt nur ascheregen.
zu wenig streut sich dir aufs wirre haupt.

ich seh dich noch genau vor lachen beben.
es war, als würdest du mein herz zersägen
und was du mir als kind gesagt, gegeben.


7
und was du mir als kind gesagt, gegeben,
das war mir heilig, bis die aura schwand.
mein glaube brach und ließ sich nie mehr kleben
von einer sich entschuldigenden hand.

zum bruch kam es auf einer trauerfeier (!)
im letzten streit gingst du mir an den kragen.
dann gingst du fort, bedrückt, auch etwas freier.
wir hatten uns nie mehr etwas zu sagen.

ich schwor dir ab und hoffte, du bereutest,
drei jahre bis zu deinem jüngsten tag,
an dem du dir das geisterschiff vertäutest.

im schlaf sah ich dich einen anker lichten,
doch keinen grund, auf dem er dunkel lag,
erhielt ich, um dein denkmal zu errichten.


8
erhielt ich, um dein denkmal zu errichten,
das maß und lot für jede tiefensphäre?
wieviel von dem verwässert in gedichten,
was derber stoff für die tragödie wäre?

die scheidung stürzte deinen lebenslauf;
ein freund hat dich zur psychiatrie gebracht.
mir taucht von daher kein erinnern auf,
ich weiß nur, ich war sieben und dann acht.

ich bin so traurig, wenn die sonne scheint,
hab ich einmal zur lehrerin gesagt.
als mutter das erfuhr, hat sie geweint.

sie weint noch immer bei so mancher frage.
und da sich vielen diese zeit versagt,
beschwör´ ich heute lautlos jene tage.


9
beschwör´ ich heute lautlos jene tage,
an denen du dämonen in dir trugst,
seh´ ich noch, wie du – eins mit deiner plage –
den kranken kopf vor unsren ofen schlugst.

ich seh´, wie das in dir gefangne tier
durch zimmer irrt und dich zum aufbruch drängt.
und manchmal sagt ein fremder mensch zu mir,
dass er sich bald am fensterkreuz erhängt.

in deinem nachruf fiel davon kein wort,
wer will auch hören, was man nicht versteht ...
ein letzter blick aufs grab, schon bin ich fort.

ich geh, wohin die andern nie gelangen
und finde spuren, die kein wind verweht,
an flüssen, die wir schweigsam abgegangen.


10
an flüssen, die wir schweigsam abgegangen
ruft aufgeschreckt durch etwas eine ralle.
sie wird sich wohl um ihren nachwuchs bangen,
der sich ins nest verkriecht, in seine falle.

ein ruderboot kommt auf mich zugesteuert
und gleitet mit zwei riemenschlägen weiter.
vor jahren hätte ich gern angeheuert,
jetzt folg ich meinem schatten als begleiter.

flussaufwärts geht’s, zu überwachsnen pfaden,
wo klares wasser meinen stammbaum speist
und dessen holz die nimmersatten maden.

verlier ich unterwegs, woran ich trage
und tröstet mich kein schatten oder geist,
fall ich von brücken, die ich eisern schlage.


11
fall ich von brücken, die ich eisern schlage –
von mir aus zu den jenseitigen ufern –
trägt mich der fluss zu meiner ausgangslage
wie echos jeden wortlaut zu den rufern.

die zeit schwemmt zeitlos strandgut hinterher.
aus bildpostkarten bau ich mir ein haus.
ist deine schrift auch fortgespült ins meer,
schreib ich mir selber liebe grüße drauf.

bei tage fäll ich manche trauerweiden,
damit sich neue aussichten ergeben.
aus ihren ästen werd ich angeln schneiden.

doch wenn ich nachts die dunkelheit beachte,
entschläft mir schnell mein tatkräftiges leben.
Im flussbett ruht, was unser glück ausmachte.


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im flussbett ruht, was unser glück ausmachte,
doch schlamm aufwühlen muss, wer danach taucht.
so sprach zu mir ein traum, bis ich erwachte.
wer hat den worten stimme eingehaucht?

ich reibe den phantomschmerz aus den augen.
dicht neben mir liegt meine schöne frau.
ein kind wird bald an ihren brüsten saugen,
und beide kennst du nicht mal ungenau.

auf meiner hochzeit fehltest du als gast.
du fehlst dem kind, das später nach dir fragt.
du hättest dich wie ich mit ihm befasst.

für mich ist das vergangne nicht vergangen,
doch nur fürs neue wird ich gern betagt.
ich suche darin halt und bin befangen.


13
ich suche darin halt und bin befangen.
ich bin zum teil wie du (warst du wie ich?).
am anfang will man sonstwohin gelangen,
zum schluss bleibt man nur ziellos hinter sich.

das kommende erscheint als weites feld;
es lockt mit gold und steckt voll metastasen.
hast du dein land aufs beste auch bestellt,
sprießt vor der saat noch fetter friedhofsrasen.

hier stehe ich und drehe mich im kreis,
und immer tragen mich die wunden füße,
wohl weil ich um mein totes vorbild weiß.

ich liebe es. vielmehr als ich es achte.
es ist in mir, gleich bitternis und süße,
wenn ich dich, ernst, im spiegelbild betrachte.


14
wenn ich dich, ernst, im spiegelbild betrachte,
fixieren sich zwei schattenboxer matt.
wo keiner seinen kampf zu ende brachte,
da findet die versöhnung niemals statt.

so nützt es nichts, wenn ich dein grab begaffe,
wenn ich es mit vergissmeinnicht bepflanze
und dünger für die blumenpracht beschaffe.
Es steht uns nicht, das überschminkte ganze.

nur einen grünen kranz werd ich dir flechten
und übergebe ihn dem trüben fluss.
verschlungne worte, durch die fische hechten.

bald lösen sich die fragen auf im nassen
und bleiben doch, wie vieles bleiben muss.
sag, vater, warum hast du mich verlassen?



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sag, vater, warum hast du mich verlassen,
noch eh wir uns das nötigste gesagt?
warum bekam ich selten dich zu fassen,
hab ich dich einmal nur nach dir befragt?

vererbt hast du mir kaum mehr als mein leben.
ein photo blieb und nachts die traumgeschichten;
und was du mir als kind gesagt, gegeben,
erhielt ich, um dein denkmal zu errichten.

beschwör ich heute lautlos jene tage
an flüssen, die wir schweigsam abgegangen,
fall ich von brücken, die ich eisern schlage.

im flussbett ruht, was unser glück ausmachte.
ich suche darin halt und bin befangen,
wenn ich dich, ernst, im spiegelbild betrachte.