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Sonntag, 9. März 1997

Das Rabenhaus

Ich muss diese Geschichte hier aufschreiben, um mir noch einmal alle Umstände und merkwürdigen Begebenheiten vor Augen zu führen, die sich genauso abgespielt haben, ohne dass ich sie je ganz begreifen werde oder ihre Zusammenhänge erkenne. Fest steht, dass der Umzug vor zwei Jahren in dieses heruntergekommene Haus zu Annas spurlosem Verschwinden geführt hat. Wir wollten endlich zusammen wohnen, aber die Verwaltungsangestellte unseres Studentenwohnheims konnte uns keine gemeinsame Wohnung in Aussicht stellen. Doch dann hatten wir Glück. Anfang Dezember stand am Aushang der Mensa:
„Zweiraumwohnung für 150,- kalt zu vermieten. Bei Rabe, Winkelgasse 7“
Ein unscheinbarer handgeschriebener Zettel inmitten der üblichen WG-Offerten und überteuerten Angeboten für möblierte Einzelzimmer. Anna strahlte mich an.

Seit einem halben Jahr waren wir zusammen. Es war eben mehr als eine unverbindliche Semesterliebschaft. Wir hatten Pläne, und Anna wusste im Herbst schon genau, wie unsere Wohnung einmal aussehen solle. Nach jeder Vorlesung schleppte sie neue Einrichtungsideen an. Mal ein Messingbett, dann ein Couchtisch. Als sei sie stundenlang über einen Flohmarkt geschlendert, statt brav im Hörsaal zu hocken. Ich liebte dieses Funkeln in ihren braunen Augen, wenn sie von selbstgenähten Gardinen oder so sprach, und hätte ihr ewig zuhören können. Aber Annas schräg nach oben gezogenen Brauen waren wie eine Herausforderung, alles bald in die Tat umzusetzen. Sie besaß nun mal nicht nur die Anmut, sondern auch die Leidenschaft einer Spanierin. Deshalb war ich schon verloren, wenn sie sich nur mit gedankenverlorener Geste eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Hinzu kam dieses spitzbübisches Lächeln, welches eine winzige Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen rahmte. Ich musste einfach über sie herfallen, sie küssen, streicheln, verzehren ... Aber das war eben unser Dilemma: Noch wohnte jeder von uns mit anderen Studenten zusammen. Wir waren fast nie allein. Und der Stadtpark neben dem Campus taugte auch nur bis zum Herbst.

Es war bereits dunkel an diesem Spätnachmittag, als ich mich mit Anna auf den Weg zu dieser freistehenden Wohnung machte. Wir liefen vor Aufregung schweigend durch eine ehemalige Arme-Leute-Gegend, wo es vor hundert Jahren auch nicht viel besser ausgesehen haben konnte. Die wenigen Straßenlaternen, die noch funktionierten, flackerten in unregelmäßigen Abständen und tauchten alles in eine gewittrige Atmosphäre. Das Haus Nr. 7 befand sich am Ende einer Sackgasse. Hinter einem Fenster im ersten Stock brannte Licht. Große Flächen des Fassadenputzes waren herausgebrochen. Die Haustür stand offen wie ein zahnloses Maul, und davor überzog Vogelkot die rissigen Gehwegplatten.
„Lass uns reingehen“, sagte ich, als Anna zögerte.
Im Flur war es stockdunkel. Es roch nach feuchten Wänden und modrigem Holz. Ich suchte mit einem brennenden Feuerzeug nach dem Lichtschalter. Aber der funktionierte nicht.
„Komm, wir gehen wieder ...“, bat mich Anna.
„Ach was!“, sagte ich und besiegelte damit unser Schicksal.
Wir tasteten uns die Treppen bis zu einer Tür hoch, aus deren Ritzen Licht drang. Und es roch nach Tabak. Im Schein des Feuerzeugs lasen wir „Rabe“ auf dem Namensschild über der Klingel. Ich sah Anna kurz an, dann drückte ich zweimal auf den Knopf. Hinter der Tür blieb es ruhig. Nur unsere Herzen stampften, als bewege sich noch jemand durchs Treppenhaus. Herr oder Frau Rabe war also nicht zu Hause. Ich war erleichtert und wollte Anna an die Hand nehmen, um den Rückweg anzutreten. Da öffnete sich die Tür, einen Spalt weit.
„Ja?!“, fragte eine heisere Männerstimme unwirsch und ging in einen Hustenanfall über.
„Wir“, sagte ich, nachdem er zu husten aufgehört hatte, „wir kommen wegen der Wohnung.“
„Wohnung? Welche Wohnung?“
Ich stutzte: „Die hier vermietet werde soll ...“
„Vermietet? Außer mir wohnt keiner hier. Ich bin nur der Hauswart“, sagte der Mann und öffnete die Tür so weit, dass wir ihn ganz sehen konnten. Das heißt, im Grunde kaum mehr als seinen Schattenriss. Er hatte eine etwas gebeugte Haltung, hielt eine Zigarre in der Hand und erinnerte wirklich etwas an einen Raben. Schwer zu sagen, wie alt er war, über fünfzig auf jeden Fall. Glut brannte sich in seine Silhouette, als er an der Zigarre zog. Er schien nachzudenken. Nach einem kurzen Schweigen sagte er zu sich irgendwas von „also doch vermieten“ und zu uns:
„Ja ja, ich weiß schon Bescheid. Moment.“ Dann ging er rein, darauf bedacht, die Tür wieder anzulehnen. Anna drückte meine Hand in der Dunkelheit. In der Wohnung klirrten Schlüssel. Gleichzeitig öffnete sich wieder die Tür.
„Kommt mit!“, brummte Herr Rabe, „Eure Wohnung ist direkt über meiner.“
Mit einer Taschenlampe ging er vorneweg. Unter dem Arm klemmte eine Aktenmappe. Er trug ein altmodisches Jackett und machte kaum Geräusche beim Treppensteigen. Dass kein Treppenlicht funktionierte, schien ihn als Hauswart kaum zu stören. Und „eure Wohnung“ hatte er gesagt, als stünde schon fest, dass wir dort einziehen werden. Er war wie ein Gefängniswärter, der uns eine Zelle zuweist. Kein Wunder, dass die anderen Wohnungen leer standen.
In der zweiten Etage gab es wieder Licht. Während Herr Rabe mit dem Aufschließen beschäftigt war, erklärte er:
„Das Klo ist hier oben“ und nickte kurz mit dem Kopf in die Richtung des Treppenfensters eine halbe Etage höher. „Lasst euch nicht einfallen, das untere zu nehmen, das ist meins!“ Daraufhin betrat er die Wohnung. Er zog eine vor die Tür gehängte Decke zur Seite und hantierte mit der Taschenlampe an einem Sicherungskasten. Dann schaltete die Beleuchtung ein.
„Hier ist der Flur, links die Küche und rechts geht’s in die Zimmer. Ihr könnt euch ja mal umsehen“, sagte er und bekam einen erneuten Hustenanfall.
Anna stand enttäuscht neben mir in der Küche, wo sich außer dem Gasherd und der Spüle auch noch eine Einbaudusche befand. Danach betraten wir zwei kleine, hohe Wohnräume. An den Fensterscheiben waren Eisblumen und ein Glassprung zu sehen. In dem kleinsten Raum befand sich ein solides Hochbett. Als Anna es entdeckte, kehrte ihre alte Begeisterung zurück. Da war wieder dieses Funkeln in ihren Augen, unter den schräg nach oben gezogenen Brauen. Das Bett hatte also genügend Gewicht, um die Vorteils-Waagschale, in der bisher nur die geringe Miete lag, nach unten zu drücken. Und somit veranlasste uns schließlich das Hochbett, diese Wohnung zu nehmen. Das heißt, ich nahm sie, denn Herr Rabe erklärte uns, bei unverheirateten Paaren könne nur einer den Mietvertrag unterschreiben. Sofort holte er zwei identische Formulare aus der Aktenmappe, einen für sich, einen für uns. Die Zigarre drehte sich in seinem Mundwinkel wie der Schwanz eines lauernden Katers hin und her, während ich die Vertragsbedingungen überflog und unterschrieb.
Anna konnte es sich nicht verkneifen zu fragen, warum das Haus einen so verwahrlosten Eindruck mache. Ich sah auf. Herr Rabe nahm die Zigarre aus dem Mund und musterte Anna etwas feindselig. Er strich mit der Hand über seine gelbgrauen Haare, kratzte sich seine große Nase und leckte mit blasser Zunge über seine schmalen Lippen. Dann erklärte er:
„Gehört hier alles einer Erbengemeinschaft. Die können sich wegen Streitigkeiten zu nichts entschließen.“ Damit meinte er offenbar die längst überfällige Sanierung.
Als wir wieder auf dem Weg zum Wohnheim waren, fragte mich Anna:
„Ist dir auch aufgefallen, dass der Hauswart ein Glasauge besitzt? Richtig angestarrt hat er mich damit, wie der Tod höchstpersönlich.“

In den nächsten Tagen fiel die Temperatur immer mehr. Nach unseren Seminarveranstaltungen standen wir warm angezogen in der neuen Wohnung und strichen die Wände weiß wie Hochzeitszimmer. Der einzige Ofen heizte nicht richtig. Und das, obwohl ich ständig Holz nachlegte. Vormieter hatten es im Keller hinterlassen, als seien sie Hals über Kopf ausgezogen. Alle Wände blieben kalt, selbst der Fußboden, unter dem Herr Rabe lebte. Spätestens hier wussten wir, was mit „kalt zu vermieten“ noch gemeint sein konnte. Die Dusche wurde auch nicht warm, Waschwasser mussten wir auf dem Herd erhitzen. Es hätte eigentlich nur besser werden können.
Nachdem wir unsere wichtigsten Sachen aus dem Wohnheim geholt hatten, übernachteten wir das erste Mal in der neuen Wohnung. Es roch noch immer stark nach Farbe. Wir legten uns eine Doppelluftmatratze vor den Ofen, löschten das Licht und hängten uns Decken über die Schultern. Stühle besaßen wir noch nicht. Anna hatte uns zwei Büchsen Ravioli aufgewärmt und ich goss uns Rotwein in Kaffeetassen. Überall standen brennende Teelichter. Wir erinnerten uns an den letzten Sommer, wo wir so gut wie alleine an einem Waldsee gezeltet hatten. Anna nippte am Rotwein und lächelte mich an. Ihre Augen blitzten. Ich begann sie zu küssen und bemerkte, dass sie sich unter der Decke bereits bis auf die Strümpfe ausgezogen hatte. Schnell war auch ich entkleidet und begann jeden Zentimeter ihrer Haut zu verschlingen. Anna roch unter den warmen Decken nach frischem Lebkuchen. Und sie liebte mich mit einer Leidenschaft, als hätte sie vor, ein Kind mit mir zu zeugen. Oder Abschied zu nehmen.
Minuten oder Stunden später lagen wir eng aneinandergekuschelt und beobachteten, wie einige Kerzenflammen vom Ausatmen nervös tänzelten. In den Farbgeruch mischte sich der von Rauch. Erst dachten wir, es käme vom Ofen, aber als ich ihn öffnete, um wieder Holz nachzulegen, sagte Anna:
„Das ist Zigarrenrauch. Von Herrn Rabe.“
„Meinst du, das zieht bis hier hoch?“, wunderte ich mich und verriegelte die Ofentür.
Der Rauch stammte wirklich von Herrn Rabe, wie wir im kalten Treppenhaus feststellen konnten, weil Anna aufs Klo musste. Ich begleitete sie zur Sicherheit. Dann hörte ich diesen tiefen Seufzer, als ich vor der Klotür auf Anna wartete.
„Warum stöhnst du so da drinnen?“, witzelte ich.
„Ich stöhne doch gar nicht“, sagte sie und drückte die Spülung.
„Nicht?“, wunderte ich mich, „ist ja eigenartig ... Dabei hätte ich schwören können ...“
Als Anna wieder rauskam, verlosch das Licht im Treppenhaus und wir tasteten uns zurück in die Wohnung.
Das Hochbett war noch kälter, als wir befürchtet hatten. Wir lagen lange wach. Die Zimmerdecke über uns bot eigentlich genügend Platz, um sich im Sitzen aufrichten zu können; in der Dunkelheit schien sie aber heruntergelassen worden zu sein. Ich musste an den Film denken, wo jemand betäubt wird und erst in einem Sarg wieder zu sich kommt. Unter uns hustete ab und zu Herr Rabe in seiner Wohnung. Sonst war es totenstill im Haus. Nicht mal ferner Straßenlärm drang an unsere Ohren.
Kurz vor dem Einschlafen hörte ich Schritte. Direkt über mir. Irgend jemand lief durch die leerstehende Wohnung im dritten Stock. Ganz deutlich hörte ich unter gleichmäßigen Schritten Dielen knarren. Anna war bereits eingeschlafen. Und um sie nicht zu beunruhigen, weckte ich sie nicht. Ich erzählte ihr auch später nichts davon. Der ganze Spuk dauerte ohnehin nicht lange. Aber bis heute weiß ich nicht, wer oder was dort über mir durch die Wohnung ging. In dieser Zeit hatte sich zwar ein Obdachloser den Dachboden mit den Tauben geteilt, weil es so kalt war, aber er konnte unmöglich in die fest verschlossene Wohnung gelangt sein. Ich entdeckte sein armseliges Nachtlager zwischen Vogelkot, verstaubten Federn und altem Hausrat, als ich nach einer Leiter suchte. Hin und wieder schien er unser Etagenklo zu benutzen, doch wir bekamen ihn nie zu Gesicht.
Diese merkwürdigen Schritte versuchte ich mir später auf eine ziemlich verrückte Weise zu erklären: Ich erhielt nämlich ein paar Tage darauf Nachricht, dass meine Großmutter aus W. verstorben sei. In eben dieser Nacht. Und wäre es nicht möglich, ... ich meine, hört man nicht immer wieder davon, dass die Seelen Verstorbener Abschied von Hinterbliebenen nehmen? Doch je häufiger ich darüber nachdenke, um so mehr frage ich mich, ob die Schritte nicht bloße Einbildung waren.

In den nächsten Wochen bekamen wir Herrn Rabe nicht mehr zu Gesicht. Nur durch den Zigarrendunst und sein Husten wussten wir, dass er da sein musste. Wir richteten uns immer wohnlicher ein, ließen die Dusche reparieren und kauften bei einer Haushaltsauflösung einen großen Esstisch, vier Stühle, einen Kleiderschrank, ein altes Sofa und einen kleinen Fernseher mit Zimmerantenne. Sogar ein elektrisches Heizgerät konnten wir günstig erstehen und trugen alles durch die halbe Stadt zur Wohnung. Mit dem Fernseher verkürzten wir uns die langen Abende der studienfreien Vorweihnachtszeit. Besuch bekamen wir eigenartigerweise nie. Bei gutem Wetter hatten wir drei Fernsehprogramme, sonst nur eines mit verzerrtem Bild. So auch an dem Abend, als Anna noch in der Küche zu tun hatte und ich durch Umstellen der Antenne versuchte, einen besseren Empfang zu ermöglichen. Ich machte alle möglichen Verrenkungen mit der Antenne, als plötzlich aus dem Fernsehrauschen eine Stimme heraustrat, erst verzerrt, dann klar und deutlich. Sie wiederholte in einer monotonen Abfolge rätselhafte Zahlencodes. Ich glaubte, irgendeine Funkfrequenz empfangen zu haben. Doch dann unterbrach sich diese Stimme und sagte:
„Geh raus!“
Was? Was ist, dachte ich.
„Hau ab! Mach, dass du hier rauskommst!“
„Wer, ich? Bin ich gemeint?“, fragte ich mich verwirrt.
„Wer sonst! Und glotz nicht so blöd!“, herrschte mich die Stimme an.
Ich rief Anna: „Komm schnell her! Hör dir das an!“ Aber als Anna da war, hatte sich das Fernsehprogramm wie von selbst eingestellt und die Zwanzig-Uhr-Nachrichten begannen.
„Was soll ich mir anhören?“, fragte sie. Nachdem ich ihr alles haargenau erzählt hatte, sah sie mich nur verwundert an.

Die Beerdigung meiner Großmutter fand zu Beginn des neuen Jahres statt. Bevor ich für zwei Tage wegfuhr, hatte ich diesen seltsamen Traum: Ich befand mich in unserer Wohnung, die unter Wasser zu stehen schien, weil ich halb tauchend, halb fliegend durch unser Wohnzimmer schwebte. Ich stieß mich vergnügt mit den Füßen von einer Wand ab und ließ mich unter der Decke zur gegenüberliegenden Seite treiben. Dabei bemerkte ich Anna. Sie durchquerte unter mir den Raum. Für sie war das Wasser oder die Schwerelosigkeit offenbar nicht vorhanden. Weil sie nicht reagierte, als ich nach ihr rief, schwamm ich zu ihr. Doch sie sah mich nicht. Ich streckte meine Hand nach ihr aus. Aber wo ich sie berührte, fing sie an zu bluten. Das Blut verteilte sich als schwadenhaft im Zimmer und raubte mir die Sicht. Davon erwachte ich.
Anna lächelte, als ich ihr den Traum schilderte.
„Du musst eben gut auf mich aufpassen“, sagte sie.
Nach dem Frühstück begab ich mich zum Bahnhof.
In W. hieß es, Großmutter sei kurz vor ihrem Ableben geistig umnachtet gewesen. Man hatte sie deshalb in einer recht modernen Klinik untergebracht. Wenn jemand sie besuchte, erzählte sie lauter wirres Zeug. Sie müsse noch Ostereier verstecken oder sie bekäme jeden Abend Starkbier zu trinken. Einmal soll sie sogar im Bademantel auf das Klinikgelände gelaufen sein und den Schwestern, die sie zurückbrachten, gesagt haben:
„Er ist hinter ihnen her! Er ist hinter ihnen her!“
Zur Urnenbeisetzung kamen nicht viele Leute. Als der Pfarrer am Grab ein paar tröstende Worte sprach, nahm ich wahr, dass jemand hinter mir Zigarre rauchte. Ich drehte mich um, sah aber niemanden. Nur ein paar Krähen flogen in den Bäumen auf, weil die Friedhofsglocken zu läuten begonnen hatten.
Am Vormittag des darauffolgenden Tages kehrte ich zu Anna zurück, stellte aber fest, dass sie nicht da war. Ich wartete einige Zeit in der Wohnung auf sie und wurde immer unruhiger. Eine Nachricht hatte sie mir auch nicht wie gewohnt hinterlassen. Ich musste mit meinen Gedanken noch auf der Beerdigung gewesen sein, denn erst jetzt fiel mir auf, dass Annas gesamte Sachen verschwunden waren. Von der Pinwand in der Küche fehlte jedes Foto und jeder ihrer alten Notizzettel. Im Flur stand kein einziger Schuh mehr von ihr. Ich sah im Schrank nach. Ihre Fächer waren leergeräumt, selbst die Seminaraufzeichnungen fehlten gänzlich. Es war, als hätte Anna nie hier gewohnt, als hätte es Anna nie gegeben. In meiner Verzweiflung suchte ich wie im Fieber nach irgendetwas, einer Spur, einem Hinweis, fand aber nicht mal einen Haargummi im ungemachten Bett. Ich sah im Keller und auf dem Dachboden nach. Nichts. Nur eine tote Taube lag da, wo der Obdachlose im alten Jahr Quartier bezogen hatte. Schließlich klingelte ich bei Herrn Rabe. Er öffnete mit einem unerwartet freundlichen Gesicht. Nur sein Glasauge betrachtete mich verächtlich. Was er für mich tun könne, fragte er. Ich sagte, Anna sei weg und ob er sie nicht gesehen habe oder ob ihm irgend etwas aufgefallen sei. Er sah mich ungläubig an und fragte, was bis heute für mich unfassbar ist:
„Welche Anna? Eine Bekannte von Ihnen?“
Ich war einen Moment lang sprachlos, versuchte, seine Äußerung zu begreifen. Konnte der Hauswart derart vergesslich sein?
„Anna“, sagte ich, „meine Freundin, mit der ich hier vor über einem Monat eingezogen bin!“
„Aber Sie sind doch hier ganz alleine eingezogen“, entgegnete Herr Rabe und lächelte verwundert.
„Alleine?“, flüsterte ich und begann meinen Verstand anzuzweifeln.
„Ja, wenn Sie mich nun entschuldigen würden“, sagte Herr Rabe ungewohnt vornehm, „ich muss mich um mein Essen kümmern.“
Ich nahm noch den Bratenduft wahr, der statt des Zigarrendunstes aus seiner Wohnung drang. Dann schloss sich die Tür.

Am Nachmittag ging ich zur Polizei und gab eine Vermisstenanzeige auf mit dem Hinweis, Herrn Rabe zu verhören. Die Beamten sahen aber keine Veranlassung darin. Für sie sah es eindeutig nach Trennung aus. Die routinemäßige Befragung des Hauswarts ergab auch nur, dass er die Vermisste nicht gekannt habe, hieß es. Auf dem Mietvertrag, den er einem Beamten zeigte, war sie nicht mal als Mitbewohnerin aufgeführt. Damit war der Fall für die Polizei erledigt.
Abends kam ich bei Freunden unter und zog in den nächsten Tagen zurück ins Studentenwohnheim, was ohne Schwierigkeiten ging. Keine einzige Nacht mehr wollte ich in diesem Rabenhaus zubringen.
Es folgte eine schlimme Zeit für mich. Ich versuchte an die Adresse von Annas Eltern ranzukommen, wusste aber nur, dass sie irgendwo bei Köln leben sollten. Anna hatte den Kontakt zu ihnen abgebrochen, weil sie ihr die zustehende finanzielle Unterstützung verwehrten. Und ich hatte auch nie nach Gründen gefragt.
Die Frau von der Wohnheimverwaltung wollte mir bei allem Verständnis die Adresse nicht geben: Datenschutz! Noch weniger ließen die Leute vom Dezernat für Studienangelegenheiten mit sich reden. Also verteilte ich in der Mensa Steckbriefe und fragte Bekannte aus. Ans Studium war nicht zu denken. Ich versuchte sogar, Herrn Rabe nachzuspionieren, gab es aber schnell auf, weil er fast nie seine Wohnung verließ. Außerdem, wenn er etwas mit Annas Verschwinden zu tun haben sollte, wie konnte er dann bis ins Letzte ihre persönliches Sachen so genau kennen? Und warum hätte er sie aus der Wohnung entfernen sollen?
Die meisten glaubten wie die Polizei, Anna habe mich verlassen. Nur aus welchem Grund? Wenn dem so wäre, warum hätte sie sich die Mühe machen sollen, selbst unwichtige Dinge von sich mitzunehmen? Darüber zermartere ich mir Nacht für Nacht das Hirn und finde keine Antwort. Nichts ist so gewiss wie diese Ungewissheit. Aber durch eben diese Ungewissheit wird stets auch die Hoffnung aufrechterhalten, Anna werde eines Tages zu mir zurückkehren. Deshalb halte ich auf der Straße und überall Ausschau nach ihr. Einmal glaubte ich, sie aus einer Straßenbahn heraus entdeckt zu haben. Doch sie war es nicht. Dafür stand an der nächsten Haltestelle, als ich raus musste, Herr Rabe mit seinem altmodischen Jackett da und rauchte. Sogleich erkannte er mich, warf seine Zigarre weg und sagte im Einsteigen zu mir:
„Na, lange nicht gesehen. Geht’s euch gut?“
Dann schlossen sich die Türen nach dem Signalton und die Bahn fuhr weiter, während von der glimmenden Zigarre dünner Rauch aufstieg.